Besitzlosigkeit: Fanatismus oder christliche Tugend?
Die Bruderhöfer geben bei Eintritt in die Gemeinschaft ihren ganzen Besitz auf und bekommen im Gegenzug fortan alles für das Leben Notwendige gestellt. Warum würde es mir eigentlich so schwer fallen das gleiche zu tun? Ein Gedankenexperiment mit Folgen. Von Timo König
„Woher hast du zum Beispiel diese Jacke?“, frage ich Daniel bei einer Pause während unseres Video-Drehs. Er trägt eine schwarze Windjacke von Dunlop – passend für das kühle Wetter. „Wenn meine alte Jacke kaputt ist, dann gehe ich zu demjenigen, der für die Kleidungsbeschaffung zuständig ist und sage ihm, was ich brauche. Dann bekomme ich eine neue Jacke. Aber ich gehe nicht mit einem Katalog zu ihm und sage: Ich hätte gerne genau dieses Modell. Zumindest habe ich keinen Anspruch darauf“, erklärt Daniel sachlich. Es scheint, als wären diese Fragen für ihn recht unbedeutend. Daniel ist ein Bruderhöfer. Er fühlt sich von Gott berufen, allen Privatbesitz aufzugeben und mit anderen Christen alles zu teilen. Was er zum Leben braucht, kommt aus einer Gemeinschaftskasse. Andere Menschen schlendern durch die Stadt, sehen vielleicht ein T-Shirt bei H&M, das ihnen gut gefällt und kaufen es. Daniel kann das nicht, denn er hat kein eigenes Geld.
Ich stelle mir vor, ich würde dieser Gemeinschaft beitreten. Was müsste ich alles aufgeben? Im Geiste schreite ich durch mein Zimmer, gehe die Schränke und Regale durch. Hier ein liebgewonnenes Buch, das mich in meiner Jugendzeit sehr geprägt hat, da meine Pilotenjacke aus Schafsfell, die mir während meines Auslandsemesters in Russland gute Dienste geleistet hat, das alte Röhrenradio, das ich von meinem Opa geerbt habe. Bei dem Gedanken, alles aufzugeben, schaudert es mich. Es geht mir nicht um den Marktwert meiner Besitztümer. Aus Geld mache ich mir nicht viel. Meinen Staubsauger aus den 70er Jahren, den ich auf dem Flohmarkt ergattert habe, würde ich gegen kein noch so kostspieliges, modernes Modell eintauschen.
Ich und mein Besitz
Was ist es dann, das mich an gewisse Gegenstände bindet? Einige sind wie ein Teil von mir, weil mich eine Geschichte mit ihnen verbindet. Sie sind materialisierte Erinnerung. In anderen finde ich meinen individuellen Geschmack widergespiegelt. Sie sind wie eine Sprache, die mein Inneres ausdrücken. Es freut mich, wenn Leute, die meinen Stil kennen, auf etwas zeigen und sagen: „Guck mal Timo, das würde dir sicherlich gefallen“ und damit ins Schwarze treffen. Es sagt mir, dass ich als Mensch mit meinen Geschmäckern und Vorlieben, wie es sie in der Kombination nur ein einziges Mal auf der Welt gibt, verstanden werde. Der persönliche Stil ist eine schöne Möglichkeit, Individualität auszudrücken.
Aber manchmal stelle ich mit etwas Unbehagen fest, dass ich an diesen Dingen hänge. Dabei ist das alles nur seelenloses Material ohne jeden Ewigkeitswert. Habe ich eine zu materialistische Einstellung? Das Leben der Bruderhöfer fordert mich heraus, darüber nachzudenken. Verlangt Gott von jedem Christen, allen Besitz abzugeben?
Gütergemeinschaft der ersten Christen
Die ersten Christen haben es tatsächlich gemacht wie die Bruderhöfer: „Sie verkauften ihren Besitz und teilten den Erlös mit allen, die bedürftig waren.“ (Apostelgeschichte 2,45) Aber schon damals war dieses Aufgeben des Besitzes kein Muss. Petrus sagte etwa zu Hananias: „Es war dein Besitz, den du nach Belieben verkaufen oder behalten konntest. Und nachdem du ihn verkauft hattest, durftest du mit dem Geld machen, was du wolltest." (Apostelgeschichte 5,4) Die gemeinsame Kasse scheint es außerdem nur in Jerusalem gegeben zu haben, nicht in den anderen frühen Gemeinden (warum genau, ist unklar). Zum Beispiel schreibt Paulus an die Korinther: „An jedem Tag des Herrn soll jeder von euch so viel Geld beiseitelegen, wie es ihm möglich ist, und für diese Sammlung aufbewahren." (1. Korinther 16,2) Diese und viele andere Stellen im Neuen Testament zeigen: Bei den ersten Christen außerhalb Jerusalems ging in der Regel jeder seiner Arbeit nach und verdiente sich seine Brötchen selbst, auch wenn es eine große Bereitschaft zur Solidarität gab.
Der Preis des ewigen Lebens
Ich bin versucht, erleichtert aufzuatmen und die Frage zu den Akten zu legen. Wenn da nicht dieser Bericht über die Begegnung Jesu mit einem reichen jungen Mann wäre. Der hatte Jesus gefragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen. Jesus wusste, dass der Mann reich war und sehr an seinem Besitz hing. Und so entgegnete ihm Jesus: „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib den Erlös den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmeln haben, und komm, folge mir nach." (Markus 10,21) Der junge Mann zog niedergeschlagen von dannen. Jesus hatte ihm einen Spiegel vorgehalten und gezeigt: Dein Besitz ist dir wichtiger als das ewige Leben. Jesus rannte ihm nicht hinterher und sagte: „Komm zurück, das war nur ein Test.“ Nein. Nur wer bereit ist, alles aufzugeben, kann dabei sein. Jesus sagt: „Wer mir nachfolgen will, muss sich selbst verleugnen.“ (Markus 8,34) Das heißt auch alle eigenen Ansprüche loszulassen. Puh. Das ist harter Tobak.
Natürlich ist mir das alles nicht neu. Aber das Gedankenexperiment „Bruderhof“ macht es mir wieder deutlich. Ich habe mich dazu entschieden, Jesus nachzufolgen. Im Geiste sehe ich diese liebgewordenen Dinge vor mir und denke: „Ich habe das alles längst aufgegeben.“ Denn Nachfolge bedeutet, alles aufzugeben, um etwas Wertvolleres zu bekommen. Wäre ich also bereit, morgen auf den Bruderhof zu ziehen, wenn Jesus es verlangen würde? Ja, ich will es sein. Das kann ich ehrlich sagen.
Prioritäten neu justieren
Mir das neu klar zu machen, tut paradoxerweise richtig gut. Wenn ich mir allen Besitz wegdenke, was bleibt? Tiefsinnige Gespräche, Vertrauen, gemeinsames Singen am Lagerfeuer, Situationskomik, Staunen über den Sternenhimmel. Es bleibt das Gefühl, dass alles hier einen tiefen Sinn hat, der in Jesus zugänglich geworden ist. Was bleibt ist das, was mein Leben wirklich reich macht: Die Beziehung zu Gott und Beziehungen zu Menschen.
In meinem Alltag neige ich manchmal dazu, das zu vergessen. Unterbewusst fange ich wieder an, mein Glück in materiellen Dingen zu suchen. Aber Jesus möchte, dass ich mein Herz nicht daran hänge und all das innerlich loslasse. Der Lohn der Nachfolge ist nicht nur das ewige Leben, sondern auch ein klarer Blick auf das, was wirklich reich macht. Die Bruderhöfer erleben das jeden Tag im Hier und Jetzt, denn sie haben ihren Besitz wortwörtlich abgegeben. Für mich ist das im Alltag manchmal nicht sichtbar. Aber ich möchte es in meinem Herzen immer mehr Realität werden lassen. Dabei hat mir der Besuch auf dem Bruderhof geholfen.