„Ich habe selten eine christliche Bewegung erlebt, die so selbstbewusste Männer und Frauen hervorbringt.“

 

Was ist der Bruderhof?

 

Markus Baum ist Autor der Biografie des Gründers der Bruderhof-Gemeinschaften "Eberhard Arnold - Ein Leben im Geist der Bergpredigt"Im Interview verrät er, wie der Bruderhof entstanden ist, welche Bedeutung deren Kleidung hat und wie die Gemeinschaft mit Krisen und Entscheidungsschwierigkeiten umgeht.  

Ist der Bruderhof eine Sekte?

Der Bruderhof ist keine Sekte. Sekte hieße ja, es ist eine christliche Sondergemeinschaft, die eine eigene Erkenntnisquellen neben der Bibel hat und sich auch sonst außerhalb der christlichen Gemeinden und Kirchen stellt. Das ist beim Bruderhof nicht der Fall.

 

Welchen religiösen Ursprung hat der Bruderhof?

Der Bruderhof hat im Grunde verschiedene geistliche Quellen. Der Gründer, Eberhard Arnold, kam aus der Erweckungserfahrung in den Brüdergemeinden Anfang des 20. Jahrhunderts. Inspiriert wurde die Bruderhof-Bewegung aber auch durch den friedlichen Strang der Täuferbewegung in Südtirol, die von Jakob Hutter ausging (die Hutterer). Diese verfassten damals Schriften über die Regeln des Zusammenlebens. Arnold, der Theologe war, hat tiefer darin gegraben und ist dabei auf so spannende Details gestoßen, die er mit seinen Weggefährten diskutierte. Die Bruderhof-Bewegung hat aber auch moderne, geistliche Stränge, wie die christliche Studierendenarbeit und die damalige Bibelkreisbewegung. Neben den geistlichen Wurzeln gibt es aber auch einen kulturellen Ursprung, nämlich die damalige Jugendbewegung, die ein neues Lebensgefühl propagierte.

 

Was genau war für den Gründer der Auslöser, aus den verschiedenen christlichen Strömungen etwas Eigenes zu gründen?

Die Situation 1920 unmittelbar nach dem deutschen Kaiserreich war eine kulturelle Katastrophe. Alles, was bis dahin tragfähig schien, war es auf einmal nicht mehr. Eberhard Arnold und seine Frau Emmy beschäftigten sich wie viele andere mit der Frage, was überhaupt noch tragfähig ist. Sie gründeten einen Hauskreis in Berlin und diskutierten dort darüber mit Leuten aus unterschiedlichen politischen und geistlichen Strömungen. Dabei buchstabierten sie die Bergpredigt. Die Arnolds waren schon immer ein bisschen radikal. Sie kamen deshalb zu dem Punkt, wo sie Nägel mit Köpfen machen mussten. Sie wollten nicht länger diskutieren, was es heißt nach der  Bergpredigt zu leben, sie wollten es ausprobieren. Also haben sie ihre Zelte in Berlin abgebrochen und haben im Main-Kinzig-Kreis mit anderen Wegbegleitern ausprobiert, ob es möglich ist, nach den Prinzipien der Bergpredigt und der Apostel, also der ersten christlichen Gemeinden, zu leben. Das war sicher ein mutiger Schritt, den sich nicht viele trauen würden. Vor allem, weil es kaum Vorbilder gab.

 

Und: hat es geklappt?

Es war ein Prozess des Suchens. Immer wieder mussten sie über die entsprechenden Bibelstellen diskutieren und sich fragen: was heißt das jetzt für uns? Irgendwann konnten sie vier Eckfahnen setzten: Lebensgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, Abendmahlsgemeinschaft und Gütergemeinschaft. 1922, nach zwei Jahren, gab es jedoch eine schwere Krise und einen Putsch in Abwesenheit des Gründers Eberhard Arnold. Nach seiner Rückkehr hat sich deshalb die Gemeinschaft gespalten. Es blieben nur sieben Leute zurück, die das ursprüngliche Modell fortführen wollten. Das ist eine Erfahrung, die jede Gemeinschaft hat: Eine existenzielle Krise in der Anfangszeit, die klärt, welche Leute in der Lage sind, das in voller Konsequenz zu leben und wer lieber Kompromisse machen möchte.

 

Auf einem Bruderhof fällt einem meist zu aller erst auf, dass die Frauen Kopftuch und Rock tragen. Das erinnert an die Amish. Hat der Bruderhof etwas gemeinsam mit den Amish?

 

Die Amish sind eine ganz andere Gruppierung. Sie sind Fortschrittsverweigerer, das sind die Bruderhöfer nicht. Die sindnämlich sehr modern in ihrer Kommunikation und Technik. Die Kleidung der Bruderhöfer erinnert an die Amish, ist aber von den Hutterern. Eberhard Arnold hatte sich die hutterischen Gemeinschaften angeschaut, um auszuloten, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben und auch, um herauszufinden, ob man sich nicht dieser viel älteren und erfahreneren Bewegung anschließen könnte. Und tatsächlich wurde die Bruderhof-Gemeinschaft von den Hutterern mit eingebunden, sodass der Bruderhof lange Zeit Teil eines internationalen Verbundes war. Die hutterische Tracht hatte Eberhard Arnold sozusagen als Zeichen der Dankbarkeit und Eingliederung mit zurück in seine Gemeinschaft gebracht. Auch vor dieser Tracht trugen die Mitglieder des Bruderhofs keine normale bürgerliche Kleidung, sondern die der Jugendbewegung. Das Kuriose ist, dass sie die Tracht bis heute beibehalten haben, obwohl die Verbindung zu den Hutterern schon lange nicht mehr so stark ist. Sie müssten also nicht zwingend diese Tracht tragen, es hat wohl mehr pragmatische Gründe. Außerdem gehört es zu ihrem Lebensmodel, nach dem Motto: wir lassen uns von der Mode nichts diktieren. Das gehört zum Konzept.

 

Inwiefern hat der Bruderhof auch eine Gegenbewegung?

Natürlich gibt es auch Gegner. Das sind typischerweise Leute, die eine Zeit lang dort gelebt haben und sich im Krach getrennt haben. Die Gemeinschaft gibt es immerhin schon seit 100 Jahren. Es gab aber einige Bemühungen zur Versöhnung von den Leitern der Bewegung und teilweise sind auch ganze Familien danach wieder zurückgekehrt. Leute, die gegen den Bruderhof demonstrieren oder warnen, weil er eine Sekte sei sind mir nicht bekannt. Aber Enttäuschung gibt es natürlich.

 

Du sprichst von Leitern der Gemeinschaft. Wer trifft denn die Entscheidungen auf dem Bruderhof?

Entscheidungen werden von der ganzen Bruderschaft getroffen, dazu gehören alle getauften Mitglieder, das heißt Männer und Frauen. Es wird zusammen beraten und dann einmütig entschieden. Da kann es dann auch mal sein, dass sie ein paar Tage lang diskutieren und trotzdem keine Einmütigkeit herstellen. Dann werden keine Entscheidungen getroffen, d.h. das Haus wird nicht gebaut und das Auto nicht gekauft. Die Entscheidung wird vertagt. In Paraguay auf einem Bruderhof gab es deshalb aber auch schon Schwierigkeiten, weil ein Leiter der Gemeinschaft die Einmütigkeit manipuliert hat. Das heißt: Alle dachten, dass man es zusammen entscheidet, aber eigentlich hatte der Leiter die Entscheidungsmacht. Das zeigt wieder, dass die Bewegung genug schlechte Erfahrung gemacht hat. Aber sie sind auch aus Schaden klug geworden.

 

Welche Stärken siehst du in der Bruderhofgemeinschaft?

Ich habe selten eine christliche Bewegung erlebt, die so selbstbewusste Männer und Frauen hervorbringt. Auch in einer großen Gruppe hat hier jeder sein eigenes Standing und kann seine Persönlichkeit vertreten. Was ich auch an den Bruderhöfen bewundere, ist ihre Mobilität. Ich finde es gut, dass eine Gemeinschaft so beweglich ist. Zum Beispiel, dass Neues ausprobiert wird, dass man auch nach Jahren Routine noch etwas anders machen möchte. Auch die einzelnen Menschen der Bewegung sind sehr mobil. Keine bürgerliche Familie schafft es so schnell an einem Ort ihre Zelte abzubrechen und an einem anderen Ort neu anzufangen, so wie die Familien des Bruderhofes es immer wieder machen.

 

Welche Schwierigkeiten erkennst du in einem solchen Lebensmodell?

Eine Schwäche ist, dass man sich als Einzelner natürlich auch verstecken kann. Man muss ja nicht "Hier" schreien, wenn es um verschiedene Ämter geht und man kann auch andere für sich entscheiden lassen. Der Mensch ist eben auch bequem.

 

Welchen Wert hat eine solche Gemeinschaft für andere Christen?

Der Bruderhof zeigt, dass man eine christliche Gemeinschaft verwirklichen kann, die gar nichts mit dem individuellen Lebensentwurf zu tun hat. Ich denke, für klassische Kirchen und Gemeinschaften ist es gut, dass es solche Leuchttürme gibt. Sie zwingt zu einer Auseinandersetzung: Wie praktiziere ich meinen Glauben eigentlich? Was kann ich mir abschneiden? Was genau hindert mich daran, in einer radikalen Gemeinschaft zu leben oder mich darauf einzulassen? Der Bruderhof will ja niemanden zu der Lebensweise bekehren. Die Gemeinschaft weiß selbst, dass das kein Lebensmodell für die ganze Menschheit sein kann. Aber es ist sehr spannend und herausfordernd, sich damit zu beschäftigen.