Die Freiheit ist nur eine Shampoo-Flasche weit entfernt
Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung werden auf dem Bruderhof klein geschrieben. Warum eigentlich und was bedeutet das für mich? Von Annabel Breitkreuz
Ich stehe in einem fremden Badezimmer. Mein Blick fällt auf ein leeres Wandregal, in dem nur eine einzige Shampoo-Flasche steht. Es ist eine dieser Shampoo-Flaschen, in die besonders viel rein passt und deren Design dringend mal ein Update braucht. Was für ein trauriger Anblick, denke ich und träume mich für einen Moment zurück zu der Produktsammlung in meinem eigenem Bad. Ich denke an all die schönen Ausflüge in Drogeriemärkte, die mich nach einem frustrierenden Arbeitstag wieder glücklich machen. Und ich denke an den Luxus, mir bei jeder Morgendusche neu überlegen zu dürfen, auf welches Pflegeprodukt ich heute Lust habe.
Aber ich bin weder im Drogeriemarkt noch in meinem eigenem Bad. Ich stehe in einem fremden Badezimmer von Bewohnerinnen des Bruderhofs. Der Bruderhof ist eine christliche Lebensgemeinschaft, die ihren gemeinsamen Glauben an Jesus teilen. Dazu gehört es, dass die Mitglieder auf eigenen Besitz verzichten und alles untereinander teilen. Deshalb die einsame Shampoo-Flasche. In diesem Moment im Badezimmer wird mir klar, welches Ausmaß dieser Lebensstil auf meine Selbstbestimmung hat. Ich fühle mich eingeengt: Wo in diesem Konzept ist die Freiheit des Einzelnen? In diesem Badezimmer sehe ich keine Freiheit, sondern nur Eingrenzung und Verzicht.
Lebe ich nur die Wohlfühl-Jesus-Nachfolge?
Kurz darauf sitze ich im gemeinsamen Speisesaal. Meine Sitznachbarin erzählt mir bereitwillig von ihrer Entscheidung, sich dieser Gemeinschaft anzuschließen. Damals habe sie sich mit einer Freundin über die Bibelstelle unterhalten, in der steht, dass jeder Christ den Zehnten seines Einkommens spenden soll. In dem Moment sei ihr klar geworden, dass sie nicht nur einen Teil, sondern ihr ganzes Leben Jesus geben möchte. Sie kam auf den Bruderhof, weil hier die Nachfolge Jesu immer an der ersten Stelle steht. Ich glaube auch an Jesus und bin deshalb verwirrt: Lebe ich nur eine Wohlfühl-Jesus-Nachfolge, weil ich mich auf den Zehnten beschränke und hin und wieder in ein eigenes Blondshampoo investiere?
Was genau steckt hinter dem Verzicht auf das Eigene? Ich frage wieder meine Sitznachbarin. Es gehe darum, dass der eigene Besitz sich zwischen mich und Jesus drängen würde. Das klingt einleuchtend. Immerhin weiß ich, wie oft ich bei schlechter Laune erst in den Drogeriemarkt laufe, anstatt zu Jesus, um bei ihm meine Sorgen loszuwerden. Die Bruderhöfer schränken ihre persönlichen Freiheiten ein, um genau das leichter leben zu können: Zuerst zu Jesus zu gehen, ihn an die erste Stelle ihres Lebens zu setzen.
Wie ich auch mit Shampoo-Sammlung mit Jesus ganze Sache machen kann
Ein Tag später. Zurück in meinem turbulenten Alltag stelle ich fest, dass es nicht nur der Besitz ist, der mich von Jesus trennt. Neben meinem Netflixs-Account können sich auch mein Partner oder mein Job zwischen mich und meine Beziehung zu Gott stellen. Umso länger ich nachdenke, umso mehr Dinge fallen mir ein. Soll ich das alles loswerden? Soll ich auf all das verzichten?
Ich glaube nicht! Ich glaube, dass mir Gott all diese Dinge geschenkt hat. Es ist aber meine Aufgabe, richtig damit umzugehen. Ich muss mich täglich neu entscheiden, was mir wichtiger ist: Die Freiheit mich mit einem Frustshoppen selbst zu belohnen oder die Freiheit, dass ich unabhängig davon auch erfüllt leben kann. Denn wahre Freiheit ist, dass ich weiß, dass nicht der Shampoo-Einkauf mich erfüllen wird, sondern allein Jesus. Freiheit ist, dass ich meinen Trost und meine Erfüllung nicht von Shampoo abhängig machen muss. Und Freiheit bedeutet auch, dass ich mich jederzeit korrigieren darf und zu Jesus umkehren kann, wenn ich mich doch falsch entschieden habe. Wenn ich mir das täglich klar mache, muss ich nicht auf alles verzichten und kann trotzdem ganze Sache mit Jesus machen.