„In all den Jahren hat es keinen einzigen Tag ohne Reibereien gegeben!“
Auf dem Bruderhof zu leben heißt für die Menschen dort, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse immer wieder zurückzustellen. Könnte ich so leben? Von Jessica Bleyl
Es ist Abend. Rund um eine Feuerstelle stehen Bänke. Gesangsbücher werden verteilt. Es ist mittlerweile recht frisch geworden. Ich bin mit meinen beiden Kollegen für zwei Tage zu Gast auf dem Bruderhof, einer christlichen Arbeits- und Lebensgemeinschaft im osthessischen Sannerz. An diesem Abend erwartet uns eine Gemeinschaftsrunde am Feuer mit Singen, Gitarrenspiel und Marshmallows. Langsam wird mir auch etwas kalt. Die Lagerfeuerrunde hat noch nicht offiziell begonnen. „Ich gehe noch mal zum Auto und hole meine Jacke,“ sage ich zu der Frau, die neben mir auf der Bank sitzt.
Auf dem Weg zum Auto bekomme ich einen Anruf von meinem Mann. Wir haben heute noch nicht gesprochen und ich setze mich kurz ins Auto und erzähle ihm von meinen Erlebnissen auf dem Bruderhof. Ich nutze die Zeit, um kurz durchzuatmen. Der Tag war voller intensiver Eindrücke, die ich erst mal loswerden muss. Nach einer Weile sehe ich im Rückspiegel plötzlich ein sorgenvolles Gesicht. Die Frau, der ich eben erzählt habe, dass ich mir noch eine Jacke hole, blickt sich suchend um. Als sie mich im Auto erblickt, kommt sie nach vorne zur Beifahrertür und ich denke mir: Oh Mist, ich hoffe, die anderen haben jetzt nicht alle auf mich gewartet?!
Nichts für Einzelgänger
Nein, darum geht es hier gar nicht. Diese Erfahrung ist ein Beispiel für die intensive Gemeinschaft auf dem Bruderhof. Das ist es, was das Zusammenleben für sie unter anderem ausmacht: Sie sorgen sich umeinander. Bei Treffen, zu denen normalerweise alle zusammenkommen, ist es hier nicht üblich, länger wegzubleiben oder spontan noch etwas anderes zu erledigen und später dazuzukommen. Wer sein eigenes Ding machen will, ist hier falsch. Menschen, die sich dem Bruderhof anschließen, geben dieses Recht freiwillig auf. Könnte ich so leben?
Ich bin ein Mensch, der sehr gerne kommuniziert und unter Leuten ist – also alles andere als eine Einzelgängerin. Dennoch brauche ich auch meinen Rückzug und meine Freiheit. Das fängt für mich zum Beispiel dabei an, dass ich entscheiden kann, was ich im Feierabend mache. Und mich auch mal rausziehe, wenn mir etwas zu viel wird. Auf dem Bruderhof zu leben heißt für die Menschen dort, dass sie die anderen immer im Blick haben. So eng zusammen zu leben, erfordert, sich selbst zurückzunehmen. Das heißt, dass sie auch an Aktivitäten teilnehmen, auf die sie mal keine Lust haben. In unserer individualistischen Zeit ist das alles andere als gewöhnlich. Heutzutage geht es eher darum, sich zu fragen: „Was kann ich noch für mich tun? Was möchte ich jetzt machen?“ Mein Erlebnis im Auto ist zwar bei weitem kein Paradebeispiel dafür, was Gemeinschaft auf dem Bruderhof im Kern ausmacht, doch hat es mir verdeutlicht, wie stark dieses Konzept in ihren Alltag hineinwirkt. Damit das Zusammenleben der Bruderhöfer funktioniert, müssen sich alle der Gemeinschaft unterordnen. Und das ist niemals leicht.
Eine Frau erzählt mir beim Abendessen: „In all den Jahren, die ich auf dem Bruderhof lebe, hat es noch keinen einzigen Tag ohne Reibereien gegeben!" Wow, ich bin verblüfft über ihre Ehrlichkeit. Und gleichzeitig auch sehr beeindruckt, dass sie sich trotzdem jeden Tag aufs Neue für dieses Leben entscheidet. Und das mit einer solchen Hingabe und Liebe für die anderen. Wie kriegt diese Frau das hin?
Sie möchte Jesus nachfolgen und anderen dienen. Für sie ist Nachfolge ein echter Lebensstil. Die Herausforderung, sich den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen, nimmt sie deshalb immer wieder an, weil sie eine bewusste Entscheidung dafür getroffen hat. Das heißt nicht, dass es ihr leicht fällt – im Gegenteil. Es ist sehr anstrengend. „Wir sind nur Menschen, das ist ganz normal,“ sagt sie mir. Aber jeder, der auf dem Bruderhof lebt, folgt einem klaren Ruf und ist sich sicher: Ja, hier gehöre ich hin. Hierher bin ich von Gott berufen!
Der Glaube als Lebensstil
Die Tage auf dem Bruderhof werfen einige Fragen ganz neu in mir auf: Wie praktiziere ich eigentlich meinen Glauben? Was kann ich mir von der Lebensweise der Bruderhöfer abschneiden oder wieder ganz neu vornehmen? Mir ist klar, dass ich nach zwei Tagen nicht wissen kann, wie es tatsächlich ist, dort zu leben, aber ich habe zumindest einen winzigen Einblick davon bekommen. Bezüglich des Lebens in Gemeinschaft kann ich viel von den Bruderhöfern lernen. In unserer individualistischen Welt neigen wir sehr stark dazu, Einzelkämpfer zu werden. Hauptsache niemand merkt, wie hilflos und ausgebrannt wir uns manchmal fühlen. In enger Gemeinschaft zu leben, hat große Vorteile. Niemand muss Angst vor Einsamkeit haben. Wenn Schwierigkeiten auftreten, sind die anderen sofort zur Stelle und helfen. Die Kinder werden von allen gemeinsam betreut, alte Menschen sind versorgt. Und ganz unabhängig von den „praktischen“ Gründen ist Gemeinschaft auch einfach etwas sehr Schönes. Zusammen am Feuer zu sitzen, lachen, essen, singen und sich die Arbeit zu teilen. Besonders bei der abendlichen Lagerfeuerrunde denke ich mir innerlich immer wieder: Hach, das hat wirklich was! Doch hier geht es in erster Linie gar nicht um diese Momente, sondern um eine bewusste Entscheidung. Zu einem Leben auf dem Bruderhof ist nicht jeder berufen. Ich spüre einen solchen Ruf zum Beispiel nicht, bin aber trotzdem davon überzeugt, dass es wichtig ist, in Gemeinschaft zu leben. Dass ich als Christin nicht nur einfach vor mich hinleben sollte. Christsein muss mehr sein als sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Es geht darum, mitten in der Welt zu leben und mich täglich neu zu fragen: Was kann ich heute anderen Gutes tun an dem Ort, an dem ich gerade bin? Meinen Glauben also ganz praktisch zu leben. Das möchte ich mir in meinem Alltag wieder ganz neu bewusst machen.